Jan-Mike Singer


Wende einer Dienstfahrt


Der angebrochene Tag zählt erst wenige Stunden. Unweit von Magdeburg kämpft sich ein alter Golf mühsam durch die Nacht. Viel Verkehr ist nicht. Nur sporadisch wird die A 2 vom Fahrzeuglicht erhellt. Kein Wunder. Das Wetter ist sowas von unfreundlich. Freiwillig verläßt jetzt keiner sein Haus. Der Fahrer des Wagens schweigt; niemand zum Sprechen da. Auch gut. Bleibt‘s still. Die besten Geräusche von heute lenken eh nur ab. Endlich in Ruhe überlegen. Bloß das schrille Quietschen der Scheibenwischer stört. Allein die Gedanken sind schwer. Für ihn. Hält‘s nicht lange aus. Hinter Marienborn kapituliert er, braucht eine Ablenkung. Wirft seine Lieblings-CD ein. Hofft auf eine Wende. Nichts ist unendlich folgt auf Zeit, die nie vergeht. Hilft alles nichts. Beruhigung ist anders. Sein Problem bohrt weiter.


Früher kannte er das nicht. Jetzt kommt das Grübeln oft und bleibt. Hartnäckig. War er alt geworden? Er will sich dieser Frage nicht stellen. Eigentlich. Ist ihm unangenehm. Unmöglich, daß seine Jugend bereits vorbei sein soll. Dennoch: Krisenerscheinungen gibt‘s genug. Seine Ausstrahlung auf attraktive Frauen bewegt sich auf einem absoluten Tiefpunkt. Schwerelos fühlt er sich schon lange nicht mehr. Eher von der Last überwältigt. Euphorie plus Überschwang verabschiedeten sich leise und unauffällig aus seinem Leben. Einfach abgehauen. Verdammt. Traurig ist er. Alles hat sich geändert. Früher war es doch dermaßen lustig. Nie konnte er genug bekommen. Wollte immer einen Zuschlag, was extra. Erleben. Sein. Nicht zu bremsen. War er. Damals. Machte lieber eine Sache zuviel als gar nicht. Heute muß er sich für jede einzelne Bewegung neu motivieren. Überwinden. Quälen. Immer wieder hat er diesen stechenden Schmerz in der Schulter. Wird schnell müde. Braucht seine Ruhe. Hat ans Aufhören gedacht. Ist sich nicht sicher, ob das möglich ist. Etwas Entscheidendes fehlt. Zu seinem Glück, ob nun groß oder klein.


Er braucht das Geld und ganz Magdeburg hat keine vernüftige Arbeit für ihn. Was heißt hier Magdeburg? Nicht mal Sachsen-Anhalt ist dazu in der Lage. So muß er jede Woche seinen vertrauten Stadtteil Sudenburg verlassen und ins ferne Niedersachsen ausweichen. Von Montag früh bis Freitag sechzehn Uhr war Leben in der Fremde angesagt, danach geht seine wahre Existenz erst richtig los. Bis alles von vorn losgeht und er sich wieder in Richtung Klassenfeind aufmacht. Mitten in der Nacht. Wenigstens haben die drüben genug zu tun. Für ihn. Arbeit oder Leben. Lautet die Devise. Hart schuftet er. Verbringt die meiste Zeit auch so. Muß ja was machen. Weitab der Heimat.


Verpaßt jedes Mal das Training der Jungs vom Roten Stern, aber die Alten Herren lassen ihn auch so spielen. Die Kumpels fehlen ihm. Unheimlich. Katrin versteht das. Sagt sie. Anscheinend hat sie sich damit abgefunden, daß er nie zu Hause ist. Sein kann. Geht nicht anders. Er muß Geld verdienen. Und ein bißchen Vergnügen haben. Da braucht er kein zusätzliches Theater zu Hause. Der komfortable Warteraum reicht. Es passiert nichts mehr zwischen ihnen. In jeder Hinsicht. Entweder will sie ihre Ruhe haben oder war nicht in Stimmung. Kopfschmerzen erwähnte sie erst gar nicht. Irgendwann hatte er sämtliche sexuelle Gedanken, die mit ihrer Existenz verbunden waren, abgeschafft. Und bei den schönen Fräuleins konnte er nicht mehr landen. Erotik knisterte nur noch als gedankliche Übung. Oder ab Mitternacht im Fernsehen. Wenn das mal eine Lust der Sinne war.


Der Kontakt zu seiner längst angetrauten Ehefrau findet ausschließlich durch flüchtige Texte statt. Wie gut, daß es Mobiltelefone gibt. Aber nur wenn die Zeit dafür ist und nichts Wichtigeres anliegt. Katrin hat keine Probleme damit. Er schon. Dennoch sagt er nie was. Vielleicht liegt einfach die beste Zeit hinter ihnen. Miteinander bestimmt.


Kein Auto weit und breit zu sehen. Kann seine Nachricht jetzt loswerden.


Denk an dich.


Erkennt Katrin mit zugekniffenen Augen auf ihrer Telefonanzeige. Sie gähnt verschlafen. Ist nicht ihre Zeit, definitiv zu früh. Aber nicht für die Wut. Na typisch. Schimpft sie. Das sieht ihm wieder ähnlich. Denkt nur an sich. Nie fragt der, wie es mir geht. Was ich will. Oder was die Kinder machen. Immer nur er, er, er. Daß ich auch mal Sorgen haben könnte, scheint ihm gar nicht in den Sinn zu kommen. Empört dreht sie sich zur Seite. Versucht, ein wenig weiter zu schlafen. Erfolgreich ist sie nicht. Die Sorgen drücken weiter.


Bald wird sie den dreiundzwanzigsten Monat arbeitslos sein. Sie weiß kaum noch, womit sie alles bezahlen soll. Es reicht hinten kaum und vorne gar nicht. Kein Geld vorhanden und alles wird teurer. Sicherlich verdient er etwas Geld, aber ein großer Teil davon geht für seine Lebenskosten dort drauf. Demnächst würden die Ferien beginnen und Lars und Sophie wollten in den Urlaub. War doch klar. Schließlich sind es ihre letzten Schulferien und sie kann nicht immer nur wegen des blöden Gelds nein sagen. Aber bei ihren finanziellen Verhältnissen scheint selbst ein einfaches Zelten viel zu teuer zu sein. Das Leben ist ungerecht. War doch nicht ihre Schuld, daß vor 18 Jahren die Zwillinge geboren worden. Die der Kinder erst recht nicht. Als sie schwanger wurde, kauften viele dem dicken Geschichtenerzähler das Märchen von den blühenden Landschaften ab. Nach einer kurzen Durststrecke würden sie bessere Zeiten sehen. Angeblich. Alle. Hatten das geglaubt. Ewigkeiten her. Nichts blühte. Von den Blumen der Bundesgartenschau mal abgesehen. Fast sehnte sie ihre Zeit beim SKET wieder herbei. Sicherlich hatte sie nur die wenigste Zeit als Zerspanerin gearbeitet, aber wenigstens empfand sie ihr Leben damals als klar strukturiert. Spannend war das nicht, aber sicher. Das ist jetzt anders. Ganz anders. Heute kann sie nicht mit Bestimmtheit sagen, was morgen wird. Sein. Bei ihr. Alles auf der Kippe. Ihre Ehe, Beschäftigung, die Zukunft ihrer Kinder: Als gegeben kann sie nichts annehmen. Manchmal hält sie es nicht länger aus. Dann fühlt sich Katrin von ihrer Neubauwohnung erdrückt. Muß raus. Verschwindet für einige Stunden oder Tage. Kinder sind schließlich groß, können auch einige Zeit allein bleiben.


Sie braucht jemand. Mit dem sie sich besprechen kann. Lars hängt die ganze Zeit am Computer und Sophie ist immer unterwegs. Auf Achse. Mit Freundinnen. Die Jugend genießen. Wie sie sagt.


Bei den Fluchtversuchen hatte Katrin Jürgen getroffen. Jetzt sieht man sich öfter. Auch am Abend bis spät in der Nacht. Die große Liebe ist das nicht, aber wenigstens da. Was man von dem Alten kaum sagen kann. Entweder in der Fremde oder mit Kumpels unterwegs. Wären nicht die Kinder, hätte sie schon lange alles hingeschmissen. Ja. Die Kinder.


Sie beschließt, ein weiteres Jahr die Stellung zu halten.


Dann.


Jetzt kann sie nicht mehr schlafen. Muß mit Sophie reden. Am besten gleich ˙nen Text schicken.


Wo steckst Du denn? Muß mit Dir reden. Mama


Steht in Sophies SMS. Irgendwann mal wird Sophie sicherlich die Nachricht ihrer Mutter beantworten, aber nicht jetzt. Erstmal muß sie sich von dieser Nacht erholen. Diese blaue Pillchen waren wirklich nicht ohne. Irgendwie sind die Abende im Klub Elektrik immer viel zu schnell vorbei. Da hat Sophie gerademal angefangen, sich in die elektronischen Klängen zu versenken und gedankenverloren zu tanzen, da ist die Nacht auch schon over. Nur gut, daß ihre Freundin Moni um die Ecke wohnt. Eigentlich hat sie es nicht weit bis nach Hause, aber sie hat keine Lust, sich ihre Mutter jetzt rein zu tun.


Der eklige Morgen hat angefangen. Blendet alles. Aus. Ruhig schlafen kann sie da nicht. Hat einmal frei, will sich ein wenig vergnügen und gleich wird sie gestört. Unüberhörbar nervt das Telefon. Das nächste Mal stellt sie es auf lautlos. Vorhaben für den Tag. Aber nicht jetzt. Lieber will sie nochmal an Patrick denken. Patrick. Sah der cool aus! Und tanzen konnte er. Wollte auch nicht sofort in die Kiste springen. Hat nur nach der Telefonnummer gefragt. Vielleicht hat er ja eine Nachricht geschickt.


Enttäuscht stellt sie fest, daß es nur eine Aktualiserung der letzten Nachricht ist. Immer wieder das gleiche. Wo bist du, was machst du und warum bist du nicht zu Haus. Sie unterläßt es, die Nachricht ihrer Mutter weiter zu beachten. Wozu auch? Sie kennt das schon.


Sophie will was Positives, was Nettes, nicht das ewige Geklage und Gejammere. Eine Nachricht von Patrick. Das wär’s. Aber Mutter meckert immer, Vater nie. Ist ja auch nie da. Wäre schön, wenn er mal mit ihr sprach. Sich für sie interessierte. Hatte immer nur zu tun. Gut, daß Moni da war. Mit der kann sie sich unterhalten. Sonst ist da keiner. Ihren Bruder Lars kann sie vergessen. Wenn der mal vom Computer hochguckt, muß es schon im Zimmer brennen. Warcraft ist die einzige Welt, die ihn beschäftigt. Ab und zu hört er noch den Call of duty, aber das ist es schon. Wie der eine Freundin kennenlernen will, bleibt Sophie ein Rätsel. Ihm wahrscheinlich auch. Irgendwie kann sich Sophie dieses Schieß-Spiel nicht als Auftakt für eine liebliche Atmosphäre vorstellen. Händchenhalten und Tief-in-die-Augen-gucken fällt aus, wenn Menschen schmerzvoll verenden. Aber Lars hat Spaß damit und Harmonie zu Hause nie so richtig erlebt. Vielleicht mal am Anfang, aber das ist lange her. Viel zu lange. Sophie wird Lars eine Mail schicken. Zu erfahren, was zu Hause so anliegt. Lars sitzt ja eh am Computer. Also setzt sie sich an Monis Rechner und schreibt ihrem Bruder eine kurze Nachricht.


He Lieblingsbro, Alles klar bei Euch? Bleib noch ein wenig bei Moni. Der Abend gestern war zu lang oder die Nacht zu kurz :-). Soph


Unglücklicherweise hat Lars aber keine Zeit, Sophies Botschaft zu lesen. Er hat Wichtigeres zu tun. Die verbleibende Zeit nutzen. Er ist damit beschäftigt, seinen gefleckten Bundeswehrrucksack zu packen. Nur die wesentlichen Sachen dürfen rein. Sein rot-weisses Samurai-Stirnband mit der aufgehenden Sonne zum Beispiel. Und das ganze Kaliumnitrat. Nicht umsonst hat er so lange mit den verschiedensten Substanzen herumexperimentiert. 12 große mit Schwarzpulver gefüllte Blechbüchsen liegen in seinem Rucksack. Das sollte genug sein. Den Lehrern eine Lektion erteilen. Nie wieder werden die ihn auslachen können. Endlich wird er sich den nötigen Respekt verschaffen.


Etliche Messer liegen verstreut auf dem Boden. Er packt sie alle ein. Dann dreht er sich nochmal um, sieht sein Zimmer. Ein abschließendes Mal. Verabschiedet sich von dem Immortal „Damned in Black“ Poster. Verläßt die Wohnung. Hat’s eilig. Muß zur Schule. Will rechtzeitig da sein. Vorher schickt er dem Vater noch einen letzten Gruß per SMS.


Heute reicht’s. Mir ist alles zuviel. Lars


Liest der Vater in seinem alten Golf. Leider verfügt er gerade über keine Zeit. Aber später wird er mit Lars reden. Versprochen. Denn Kinder sind doch unsere Zukunft.




© Jan-Mike Singer