Sylvia Geist

Sylvia Geist lives in Hannover.



Five Poems by Sylvia Geist




Auflesen

In den Büchern nisten Vögel.
Proben vom Mond gegenüber,

Blätter von Ariels Baum, gevierteilt
für den Versuch eines Nestes:

Katalogisieren der Verluste. Ich enthalte
ihnen Nahrung vor, Wasser, öffne Fenster,

bleibe unfähig in der Luft zu stehen.
Nicht zu sagen, woraus ihre Verstecke sind.

Einmal finde ich eine Glocke aus Stroh,
der ein Ei entrollt, unaufhörlich, wei?,

so muss es sein im Innern
eines Mundes, bevor ich ihn öffne.





Nach Canetti

Abende lang gingen die Wasserbüffel auf Nashörner
zurück, Vögel auf Echsen, Pelztiere auf Haarlose und immer
so weiter - ab in die Unglaublichkeit der Knochensprache
führte eine Produktion der BBC, raffte die Verwandlung
der Welt ins Bild. Jedes schien sich eingetauscht zu haben,
indem es sich flügelte oder eingrub, zottig wurde,
Klauen bekam, Hände, ein Karneval der Interpretationen

von etwas, das erst erfunden werden sollte, des Erforderlichen.
Mir kam das Ganze wie eine Werbesendung vor, oder
ein Trainingsprogramm, trostlos beides. So vieles geschah,
geschieht aus Not, was hilft es zu wissen, dass man einmal
anders war, ohne eine Erklärung, die Raum lässt
für bessere Innovationen, abgeschaut auch sie, doch
gewandelt in geheimeren Zellen, auf der kleinen Flamme

Zunge erwärmt wie ein Stückchen Eis. Nichts spricht
dagegen, dass Wandlung die Antwort der Machtlosen ist,
angesichts solcher Verwandtschaften, die Zuflucht,
ohne die nichts mehr übrig wäre, keine Form, die Wasser noch
annehmen, keine, die es noch höhlen könnte für irgend etwas
sonst, und der Stachel der Biene, der Zahn des Hundes
ihre erzwungene, dunkle Vergebung.





Mehrere Schmetterlingsarten und -unterarten tragen den Namen
Vladimir nabokovs. Der bekannteste von ihm spezifizierte Falter ist
vermutlich der Karner-Bläuling, der offizielle Schmetterling von New
Hampshire.


Bläuling

Die Langeweile des Lehrers
im Rascheln gewendeter Seiten, Lolita
noch unter keiner Ladentheke
in Paris, die andere Sprache verpuppt
im Ohr, eine prachtvolle Störung,
und ein infantiler Gott lässt
einen Schwärmer los, auf

dass ihn einer beschriebe: ohne Vergleich
ist die Terminologie der Bestimmung,
ein Code, der Einmaligkeiten vererbt
wie ein Tag dem nächsten.

Das wievielte Heim brennt
Löcher in die Landschaft
um Cornell und übers Meer
kommen mit dem Asselklang
von Zimmerasche die frühen
Wiesen wieder.





(aus DER SPIEGEL vom 10.05.04: „(...)Nacktmulle spüren keinen Schmerz, zumindest nicht in dem Ausma? wie andere Säugetiere. Der Grund dafür ist, dass ihnen als Substanz P bezeichneter, für das Schmerzempfinden wichtiger Stoff fehlt.“)


Stoffwechsel

Sicher ist der Schmerz
ein Ma?, das du von Mal zu Mal
erwiesen glaubst: Amalgame, Prothesen, Erfahrung
ersetzen ihn fast, wenn es schlimm kommt nur,
erscheinst du dir noch
unversehrt. Vom hässlichsten Tier

wei?t du, es fühlt
nicht wie du, es nagt,
ein nacktes, tagblindes Ding
in den Händen von Laboranten, die es lieben,

weil ihm fehlt, was man dir liebend
gern abzöge. Schmerz, hörst du,
ist ein Stoff, der deckt
sich mit deiner Haut
am Ende ganz.





Nocturne


Ich will das jetzt ablegen.
Wie Leute eines Wandervolks
schliefen, einen Stein in den Nacken
geschmiegt und Termitenmusik
im Traum, so will ich das ablegen.

Fahrkarten, Post, Gekritzel vom Tag,
als ich, Farnsamen im Schuh, betete,
nicht mehr wahr, das Geschenk, das ich
immer mal umtauschen wollte, Bücher,
Geschirre, die Sandrosensammlung.

Null Uhr, es geht hinaus, es klingt
nach Blindenstöcken, voll Birken,
Kohle, Forellen die Luft, der Asphalt
gibt den Mittag aus, glitzert zurück.
Ich habe schwarze Hände fürs Gras.




©Sylvia Geist