JAN-MIKE SINGER



Bei Anruf Urlaub

Ich bin der Erwin. Erwin Lottermann, Freunde nennen mich einfach nur „Lotto“. Spiele regelmäßig seit über zwanzig Jahren jeden Mittwoch und Samstag, immer die gleichen Zahlen mit System. Glück hatte ich nie. Von 1989 mal abgesehen. Da hatte ich 'nen Vierer. Mit Zusatzzahl. Andere waren aber genauso im Dusel und jeder bekam 418,23 Mark. Schien dann eher Pech als Glück zu sein. Die politischen Ereignisse in diesem Jahr auch. Erst war das Glück und dann kam die Trauer. Ist anscheinend bei mir immer so. Das Leben ist hart und ich bin gesund, kräftig und seit mehr als fünf Jahren arbeitslos. Is‘ nich meine Schuld. Wer will heute noch einen fünfzigjährigen Mann im Osten einstellen? Siehste! Ich kenne auch keenen! Bin zwar ohne Arbeit, dennoch möchte ich was vom Leben haben. Nicht alles, aber etwas. Warum sollen immer nur die anderen was zum Angeben haben? Will nicht viel, nur auf den famosen Familienfeiern nicht ganz so bedürftig dastehen. Schon wegen Muttern. Hat schließlich genug Sorgen mit ihrer Rente und Gesundheit. Soll sich keine Sorgen mehr um mich machen. Da hat sie über 40 Jahre gearbeitet, bekommt keine 820 Euro Rente und glaubt, mir immer noch unter die Arme greifen zu müssen. Zehn Euros fürs Essen hier, fünf Euro für ein gepflegtes Wochenendbierchen dort. Obwohl sie selbst kaum genug hat. Möchte ich es eigentlich gar nicht nehmen, aber sie freut sich doch immer so königlich, wenn es ihr mal wieder gelungen ist, ein paar Euros zu sparen! Das gesparte Geld gibt sie dann immer mir. Klaus, der Angeber, darf davon nichts wissen, interessiert sich sowieso nicht für einstellige Eurobeträge. Bei dem fängt doch Geld erst mit den grünen Scheinen an. Trotzdem hilft der Mutter nie! Angeblich wäre die allgemeine Wirtschaftslage jeglichen Fremdinvestitionen abträglich. Wenn ich den Blödmann schon sehe, fange ich an zu kochen. Nach Thailand für acht Tage fliegen, dort den dicken Max markieren, aber hier kein Geld für Muttern übrig haben! Und wie er sich dann über die Weiterbildungsmaßnahme, so nennt der Idiot doch tatsächlich seinen Sun-und-Ex-Tourismus, ausläßt, nicht zu ertragen!! Wollte er doch bei unserm letzten Familientreffen alle belabern, daß wir landestypisch essen. Stäbchen in Leuna, einfach lächerlich. Dem habe ich es aber gegeben! Erst holte ich Eisbein und Kartoffelbrei plus Senf aus dem Kühlschrank, damit er wat Richtiges für seine Stäbchen zu tun hatte. Schien ihm gar nicht recht zu sein. Als er genüßlich in seinen Bangkoger Erlebnissen vor versammelter Mannschaft baden wollte, mußte ich als reinen Selbstschutz eine Sensation präsentieren, die acht Tage Thailand in den Schatten und ihn auf die Palme bringen sollte. Ein Blick auf die Rückseite von Fernsehbeilage brachte die Idee: Ich gab an, mich zwei Wochen in der Dominikanischen Republik verwöhnen zu lassen. Und zwar im Mai. Sein Gesicht hättest Du sehen müssen! Panikattacke ist gar nichts dagegen. Das einzige, was ihn an der Karibik interessierte, war, wie teuer es sei. Dann kam, woher ich das Geld hätte. Ich erzählte also etwas von einem gewonnenen Preisausschreiben in einem Anzeigenblatt. Mutter lächelte zufrieden, wollte alles über die Reise wissen. Endlich hätte auch ich mal Glück gehabt, freute sie sich, und ich solle diese Zeit ja genießen.

Das war im November und der Mai schien ganz weit weg zu sein. Wenn ich glaubte, daß meine familiäre Ankündigung bald vergessen sein würde, hatte ich nicht mit Mutter gerechnet! Immer wieder fragte sie nach den Einzelheiten des Urlaubs, welches Hotel, welcher Ort und Reisebüro, so daß ich anfangen mußte, sämtliche angebliche Urlaubsdetails aufzuschreiben, damit ich mich nicht bei ihr verplapperte. Bei jeder neuen Einzelheit schien Mutter aufzublühen, als ob sie in den Urlaub fahre. Sie kaufte mir sogar einen Marco-Polo-Reiseführer, den sie im letzten Buchladen der Stadt preisreduziert gefunden hatte. Einmal versuchte ich Mutter zu eröffnen, daß das Reiseunternehmen sich mit mir geirrt haben könnte. Als Mutter mitkommen wollte, um alles zu klären, regelte ich dies doch lieber selbst. Aus meiner Domikanischen-Republik-Reise kam ich nicht mehr raus, selbst die beste Reiserücktrittsversicherung konnte mir da nicht mehr helfen. So rief ich Paule in Halle-Neustadt an und bat ihn um zwei Wochen Asyl. Anschließend buchte ich telefonisch einen Wochen-Super-Spar-Tarif in „Halle’s modernstes Bräunungsstudio“ und las mir Mutterns Reiseführer akribisch durch. Alles schien für den Karibik-Urlaub in Halle-Neustadt perfekt organisiert zu sein, als Mutter mich noch zum Flugzeug bringen wollte. Ich konnte ihr nur noch sagen, daß diese Urlaubsmaschinen immer so früh starten und sie deshalb nicht mitkommen solle. Ich riefe sie aber so schnell wie irgend möglich an. Aus einer öffentlichen Telefonzelle, da mein Handy keinen Empfang an der Nordküste in Sosua haben werde. Ich würde auch behaupten, eine Postkarte losgeschickt zu haben. So hatte ich das perfekte Alibi!

Ich gehe dann also zur Telefonzelle. Überlege, was ich von meinem großen Glück Mutter erzählen werde. Sollte mir nicht schwerfallen, die Schönheit der Dominikanischen Republik beim Anblick Halle-Neustadts hervorzukehren. Mit dem Gedanken, daß mein Urlaubsglück nicht früh genug zu ende gehen kann, betrete ich die verdreckte Telefonzelle und wähle Mutters Nummer.

© Jan-Mike Singer