HERTA MÜLLER



Immer derselbe Schnee und immer derselbe Onkel

Die Frisuren der Frauen waren von hinten gesehen sitzende Katzen. Warum muß ich sitzende Katzen sagen, um die Haare zu beschreiben?

Alles wurde immer etwas anderes. Zuerst unauffällig etwas anderes, wenn man es nur so für sich ansah. Dann aber nachweislich etwas anderes, wenn man Worte dafür finden mußte, weil man darüber sprach. Wenn man im Beschreiben genau sein will, muß man im Satz etwas finden, das ganz anders ist, damit man genau sein kann.

Jede Frau im Dorf hatte einen langen dicken Zopf. Doppelt zusammengelegt wurde der Zopf am Hinterkopf senkrecht nach oben geführt und mit einem halbrunden Hornkamm oberhalb der Kopfmitte hochgesteckt. Die Zähne des Hornkamms verschwanden im Haar, von seinem gewölbten Rand schauten nur die äußeren Ecken wie kleine, spitze Ohren heraus. Mit den Ohren und dem dicken Zopf sah der Hinterkopf der Frauen wie eine kerzengerade sitzende Katze aus.

Diese vagabundierenden Eigenschaften, die einen Gegenstand in einen anderen verwandelten, waren unberechenbar. Sie verzerrten die Wahrnehmung blitzschnell, machten aus ihr, was sie wollten. Jeder dünne, im Wasser schwimmende Ast glich einer Wasserschlange. Wegen der ständigen Angst vor Schlangen habe ich Angst vor dem Wasser gehabt. Nicht aus Angst vor dem Ertrinken, sondern aus Angst vor dem Schlangenholz, vor diesen dürren schwimmenden Ästen habe ich nie schwimmen gelernt. Die eingebildeten Schlangen wirkten stärker als wirkliche es vermocht hätten, sie waren immer in den Gedanken, immer wenn ich den Fluß sah.

Und immer wenn die Begräbnisse sich dem Friedhof näherten, wurde das Ziehglöcklein geläutet. Ein langer Strick, daran die kleine, in kurzen Tönen dringlich bimmelnde Glocke - für mich war das die Friedhofschlange, die mit ihrer zuckersüßen Zunge die Leute ins Sterben und die Gestorbenen zum Streicheln ins Grab lockte. Und das Streicheln tat den Toten gut, das spürte man regelrecht am Windhauch auf dem Friedhof. Was den Toten guttat, das ekelte mich. Und je mehr es mich ekelte, um so mehr mußte ich daran denken. Denn einen Luftzug, irgendeinen kühlen oder warmen dürren Wind gab es immer, und er verstörte mich. Aber statt mich zu beeilen, hetzte mir nur der Atem und ich trug das Wasser langsam, goß die Blumen langsam, um länger zu bleiben. Das war vielleicht eine Sucht, diese im Kopf eingebildeten Gegenstände mit ihren vagabundierenden Eigenschaften. Ich suchte sie fortwährend, deshalb suchten sie mich. Sie liefen mir wie eine Meute nach, als würde ich sie mit meiner Angst füttern. Wahrscheinlich fütterten sie mich, gaben meiner Angst ein Bild. Und Bilder, vor allem bedrohliche, gleichen der Angst. Bedrohliche Bilder müssen nicht trösten und darum müssen sie nicht enttäuschen, und darum zerbrechen sie nie. Man kann sich immer wieder dasselbe Bild einbilden im Kopf. Durch und durch bekannt wird es immer zu einem Halt. Die Wiederholung machte es jedesmal wie neu, und sie schonte mich.

Als meine beste Freundin sich einen Tag vor der Auswanderung von mir verabschiedete, als wir uns umarmten und dachten, wir werden uns nie wiedersehen, weil ich nicht mehr ins Land hinein darf und sie nie aus dem Land hinaus - als sich die Freundin also verabschiedete, konnten wir uns nicht voneinander losreißen. Sie ging dreimal zur Tür hinaus und kam jedesmal wieder zurück. Erst nach dem dritten Mal ging sie von mir weg, ging so lang gleichmäßig im Takt wie die Straße lang war. Die Straße lief gerade, so sah ich ihre helle Jacke klein und kleiner und seltsamer Weise mit der Entfernung greller werden. Ich weiß nicht, glänzte die Wintersonne, es war damals Februar, glänzten meine Augen in sich selbst vom Weinen oder glänzte der Stoff der Jacke - eines weiß ich jedenfalls: ich schaute der Freundin hinterher und ihr Rücken glitzerte im Weggehen wie ein Silberlöffel. So konnte ich die ganze Trennung intuitiv in ein Wort fassen. Ich nannte sie Silberlöffel. Und das war es auch, was den ganzen Vorgang mühelos aufs Genaueste beschrieb.

Ich traue der Sprache nicht. Am besten weiß ich von mir selbst, daß sie sich um genau zu werden, immer etwas nehmen muß, was ihr nicht gehört. Ich weiß nicht warum Sprachbilder so diebisch sind, weshalb raubt sich der gültigste Vergleich Eigenschaften, die ihm nicht zustehen. Erst durchs Erfinden entsteht die Überraschung, und es beweist sich immer wieder, daß erst mit der erfundenen Überraschung im Satz die Nähe zur Wirklichkeit beginnt. Erst wenn eine Wahrnehmung die andere ausraubt, ein Gegenstand das Material des anderen an sich reißt und benutzt - erst wenn das, was sich im Wirklichen ausschließt, im Satz plausibel geworden ist, kann sich der Satz vor der Realität behaupten als eigene, wie ins Wort geratene - aber wortgültige Realität.

Meine Mutter war der Ansicht, daß das Schicksal seit jeher immer im Winter in unsere Familie kommt. Als sie mit mir aus Rumänien auswanderte, war es ja Winter, es war Februar. Vor 20 Jahren.

Ein paar Tage bevor man selber abreiste, konnte man vom Zollposten nahe der Grenze 70 Kilo Gepäck pro Person vorausschicken. Verpacken mußte man das Gepäck in einer großen Holzkiste mit vorgeschriebenen Maßen. Der Dorftischler baute sie, sie war aus hellem Akazienholz.

Ich hatte diese Auswanderungskiste völlig vergessen. Seit 1987, seit ich in Berlin bin, hatte ich nie wieder an sie gedacht. Aber dann kam eine Zeit, in der ich ganze Tage am Stück an sie denken mußte, denn sie spielte weltweit eine wichtige Rolle. Unsere Auswanderungskiste hat Geschichte gemacht, sie war der Mittelpunkt in einem weltbewegenden Geschehen, sie war berühmt geworden, tagelang war sie im Fernsehen. Denn wie das so ist, wenn Gegenstände selbständig werden, wenn sie im Kopf völlig unbegründet in andere Dinge schlüpfen, umsomehr in andere Dinge, je besser der Kopf weiß, daß sie rein garnichts mit diesen anderen Dingen zu tun haben: Also ich habe unsere Auswanderungskiste ständig im Fernsehen gesehen, weil der Papst gestorben war. Sein Sarg sah genauso aus wie die Auswanderungskiste. Da fiel mir die ganze Auswanderung wieder ein.

Mit einem Lastauto fuhren meine Mutter und ich um vier Uhr nachts mit der Auswanderungskiste los. Fünf, sechs Stunden Weg waren es bis zur Zollstelle. Wir saßen auf dem Anhänger, auf dem Boden im Windschatten der Kiste. Die Nacht war glasigkalt, der Mond schaukelte senkrecht, die Augäpfel wurden einem von der Kälte sperrig wie gefrorenes Obst in der Stirn. Das Blinzeln tat weh, als hätte man Froststaub in den Augen sitzen. Erst schaukelte der Mond schmal und ein bißchen gebogen, später, als es noch kälter wurde, begann er zu stechen, er war spitz geschliffen. Die Nacht war nicht schwarz, sondern durchsichtig, weil sich der Schnee wie ein Abglanz von Taglicht verhielt. Es war auf dieser Fahrt zu kalt zum Reden. Man will den Mund nicht ständig öffnen, wenn der Gaumen friert. Ich wollte keinen Mucks sagen. Und dann mußte doch geredet werden, weil meine Mutter vielleicht nur zu sich selbst, aber aus Versehen laut sagte:

Es ist doch immer derselbe Schnee.

Damit meinte sie den Januar 1945, ihre Deportation zur Zwangsarbeit in die Sowjetunion. Schon 16-jährige standen auf den Listen der Russen. Viele haben sich versteckt. Meine Mutter saß schon vier Tage in einem Erdloch im Nachbargarten, hinter der Scheune. Doch dann kam der Schnee. Man konnte ihr nicht mehr heimlich das Essen bringen, jeder Schritt zwischen Haus, Scheune und Erdloch wurde sichtbar. Man konnte im ganzen Schnee, im ganzen Dorf zu jedem Versteck den Weg sehen. Man konnte in den Gärten die Fußstapfen lesen. Der Schnee denunzierte. Nicht nur meine Mutter, viele mußten freiwillig aus dem Versteck, freiwillig gezwungen vom Schnee. Und das bedeutete dann 5 Jahre Arbeitslager. Das hat meine Mutter dem Schnee nie verziehen.

Meine Großmutter sagte mir später: „Frisch gefallenen Schnee kann man nicht nachmachen, man kann Schnee nicht so arrangieren, daß er unberührt aussieht. Erde kann man arrangieren“, sagte sie, „Sand, sogar Gras, wenn man sich Mühe gibt, Wasser arrangiert sich von selbst, weil es alles und sich selber schluckt und sich gleich wieder schließt, wenn es geschluckt hat. Und die Luft“, sagte sie, „ist immer fertig arrangiert, weil man sie gar nicht sehen kann.“

Demnach hätte jedes Material geschwiegen, außer dem Schnee. Und daß der dicke Schnee die Hauptschuld an ihrer Verschleppung trägt, glaubt auch meine Mutter bis heute. Sie glaubt, daß der Schnee zwar ins Dorf fiel, als wisse er, wo er ist, als wäre er hier zuhaus. Daß er sich aber fremd verhielt und den Russen sofort zu Diensten war. Der Schnee ist ein weißer Verrat. Genau das meinte meine Mutter mit ihrem Satz: Es ist doch immer derselbe Schnee.

Das Wort Verrat sagte meine Mutter nie, sie brauchte es nicht. Das Wort Verrat war da, weil sie es nicht sagte. Und das Wort Verrat wurde mit den Jahren sogar größer, je öfter sie ihre Geschichte ohne das Wort Verrat erzählte, in Form von wiederholten Sätzen aus immer gleichen gestanzten Formulierungen, die das Wort Verrat nicht brauchten. Sehr spät, erst als ich die Verschleppungsgeschichten schon jahrelang kannte, fiel mir auf, daß im Erzählten das Wort Verrat durch konsequente Vermeidung monströs groß geworden war, so fundamental, daß man die ganze Geschichte in dem Wort Schneeverrat hätte zusammenfassen können, wenn man gewollt hätte. Das Erlebte war so stark, daß alle Jahre danach nur gewöhnliche Wörter fürs Erzählen taugten, keine Abstrakta, kein verstärktes Wort.

Der Schneeverrat ist mein Wort, und ist genau so eines wie der Silberlöffel. Für komplizierte lange Geschichten ein direktes Wort, das so viel Unausgesprochenes enthält, weil es alle Einzelheiten meidet. Weil so ein Wort den Verlauf des Geschehens zu einem Punkt verkürzt, verlängern sich im Kopf die Vorstellungen über die zahllosen Möglichkeiten. So ein Wort wie Schneeverrat läßt viele Vergleiche zu, weil keine gemacht worden sind. So ein Wort springt dann aus dem Satz als wäre es aus einem anderen Material. Dieses Material heißt für mich: der Trick mit der Sprache. Es ist der Trick mit der Sprache, vor dem ich immer so eine Angst habe und der mich süchtig macht. Eine Angst, weil ich beim Tricksen spüre, daß durch den Trick etwas jenseits des Wortes wahr wird, wenn mir der Trick gelingt. Weil ich mit dem Gelingen so lang zu tun habe als ob ich es verhindern wollte. Und weil ich außerdem weiß, daß der Spagat zwischen Gelingen und Mißlingen wie ein Sprungseil schaukelt, aber es springen die Schläfen, nicht die Füße. Durch den Trick erfunden, also total künstlich, schwingt so ein Wort wie Schneeverrat. Sein Material verwandelt sich und unterscheidet sich nicht mehr von einer natürlichen, körperlich starken Empfindung.

Den ersten Verrat, an den ich mich erinnere, habe ich selbst begangen. Es ist der Verrat mit dem Kalb. In meinem Kopf ging es damals jedoch um zwei Kälber, und ich habe das eine Kalb an dem anderen gemessen, sonst hätte ich nicht verraten. Das eine Kalb wurde ins Zimmer getragen und dem anderen Kalb wurde der Fuß gebrochen. Das eine Kalb wurde kurz nach seiner Geburt ins Zimmer getragen und vor dem Bett meines Großvaters auf den Diwan gelegt. Mein Großvater lag seit Jahren gelähmt in diesem Bett. Und er sah das neugeborene Kalb mit stechend gierigen Augen an, eine ganze halbe Stunde ohne ein Wort. Und ich saß auf dem Diwan am Fußende des Bettes und am Fußende des Kalbs. Und ich sah den Großvater an. Mir brach das Mitleid mit ihm fast das Herz und genauso der Ekel vor seinem Blick. Es war ein diebischer Blick, direkt zu dem Kalb gespannt, straff hing er wie eine Glasschnur in der Luft zwischen dem Bett und dem Kalb. Ein Blick, bei dem die Pupillen glänzten wie frisch angelötete Metallkügelchen. Eine unflätige verzweifelte Bewunderung, die das Kalb mit den Augen fraß. Der Großvater sah nur das neue Kalb, mich sah er nicht - gottseidank. Denn ich spürte, wie gefräßig dieses Schauen ist, wie es sich vor nichts geniert. So ein Augenhunger, dachte ich. Augenhunger war dann auch so ein Wort, das mir im Kopf immer wiederkehrte.

Ja, das war das eine Kalb. Und dem anderen Kalb wurde kurz nach der Geburt mit der Axt der Fuß gebrochen, damit man es schlachten darf. Es war verboten, Kälber zu schlachten, man mußte sie dem Staat abliefern, nach ein paar Wochen, wenn sie das nötige Gewicht hatten. Nur wenn ein Unfall passierte, erlaubte der Tierarzt Notschlachtungen und man durfte das Fleisch behalten und selber essen. Als der Vater dem Tierarzt den Unfall mit dem Kalb vortrug, ihm zeigte wie die Kuh ihren schweren Fuß auf das Kalb gestellt hatte, schrie ich: Du lügst, du hast es gemacht mit der Axt.

Ich war sieben Jahre alt, wußte von meinen Eltern, daß man nie lügen soll. Wußte aber auch, daß der Staat schlecht ist und Leute, weil sie die Wahrheit sagten, ins Gefängnis sperrte. Daß der Tierarzt ein Fremder ist im Dorf und gegen uns und für den Staat ist, wußte ich auch. Ich hätte meinen Vater damals fast ins Gefängnis gebracht, weil er mir instinktiv zutraute, daß ich zwischen unerlaubter Lüge zuhause und erlaubter Notlüge wegen all den Verboten unterscheiden kann. Als der Tierarzt damals nach einer dicken Bestechung gegangen war, verstand ich, ohne das Wort zu kennen, was ich getan hatte, was Verrat ist. Ich fühlte mich wie ausgedorrt, mir war schlecht vom Gaumen bis in die Zehen.

Jahrelang hatten wir brav jedes Kalb dem Staat abgeliefert. Jetzt wollten wir Kalbfleisch essen. Darum ging es. Aber es ging auch um mehrere Prinzipien, die durcheinander kamen. Lüge, Wahrheit und Würde. Den Staat durfte man immer anlügen, wenn man konnte, weil man nur so sein Recht bekam - das wußte ich. Die Lüge meines Vaters funktionierte, sie war geschmeidig und nötig war sie auch. Nur was war es dann, das mich dazu brachte, vor dem fremden Tierarzt den Vater zu verraten? Ich dachte an das andere Kalb bei den Großeltern väterlicherseits, in dem anderen Haus, das derselbe Vater auf den Armen aus dem Stall ins Zimmer trug und auf den Samtdiwan legte. Das Kalb auf dem Diwan war nicht schön, weil ein Kalb nicht auf einen Diwan gehört. Es war sogar häßlich wie es dort lag, auch wenn es nichts dafür konnte, daß es ein Kalb auf dem Samtdiwan war, daß man es so verwöhnte. Aber das Kalb, dem man mit der Axt den Fuß gebrochen hatte, war schön. Nicht aus Mitleid, weil man es schlachten wollte. Wenn man Fleisch essen will, muß man ja schlachten - nein schön war das Kalb, weil man es eben nicht durchs Schlachten schlachten konnte, sondern quälen und vorführen mußte. Dadurch wurde es auch für meine Bauernaugen ein beeindruckendes Geschöpf. Ich sah unzählige Male, alle Tage ohne Probleme zu wie Hühner, Hasen oder Ziegen geschlachtet wurden. Ich wußte wie man junge Katzen ertränkt, Hunde erschlägt, Ratten vergiftet. Aber durch den gebrochenen Fuß packte mich ein unbekanntes Gefühl, mich erwischte die natürliche Schönheit des Kalbs, seine beinah notorisch kitschige Unschuld, eine Art Schmerz vor dem Mißbrauch. Es hätte für den Vater im Gefängnis enden können. Gefängnis - dieses Wort traf mich so klar wie ein Messer, mir pochte in der Dürre meines Verrats das Herz bis in die Stirn.

Ja, das war ein anderer Verrat als Schneeverrat.

Vielleicht weil die Nachtfahrt auf diesem Lastauto über die Ebene durchs leere Feld so hell wie dünne Milch war, dachte ich an den Verrat mit dem Kalb, mit den zwei Kälbern. Denn die Mutter hatte ja im Windschatten der Auswanderungskiste nur vom Schneeverrat gesprochen.

Damals fuhr sie im plombierten Viehwaggon ins Lager und jetzt mit mir auf einem Lastauto zum Zoll. Damals wurde sie von Milizen mit Gewehren bewacht, jetzt aber schaute nur der Mond. Damals war sie eine Eingesperrte und jetzt eine, die auswandert. Damals war sie 20 und jetzt über 60.

Das war schlimm, mit 60 Jahren und 70 Kilo Gepäck, mit einer Auswanderungskiste im Februar auf dem Lastauto mit dem Mond durch den Schnee zu fahren, aber es gab nichts zu vergleichen mit 1945. Nach jahrelangen Schikanen wollte ich aus diesem Land weg. Auch wenn ich mit den Nerven fertig war, auch wenn es sein mußte, um dem Ceau?escu-Regime und seinem Geheimdienst zu entkommen, auch wenn es sein mußte, um nicht den Verstand zu verlieren, es war DOCH ein Wollen, es war kein Müssen. Ich wollte weg, und sie wollte, weil ich wollte. Das mußte ich ihr auf diesem Lastauto sagen, auch wenn mir beim Reden der Gaumen fror. „Hör auf zu vergleichen, der Schnee kann nichts dafür“, mußte ich meiner Mutter sagen, „der Schnee hat uns aus keinem Versteck getrieben.“

Ich war damals im Kopf nicht mehr weit davon weg, den Verstand zu verlieren. Ich war so kaputt, meine Nerven spielten sich auf gegen mich, mir lief die Angst, die ich hatte, aus der Haut in alle Gegenstände, mit denen ich hantierte. Und sie hantierten sofort mit mir. Wenn man so ein bißchen über den Rand schaut, so ein bißchen im Kopf in Millimetern laviert zwischen Abstrus und Normal, wenn man sich dabei zuschaut, dann ist man am äußersten Zipfel der Normalität angelangt. Da darf nicht mehr viel dazu kommen. Da will man dann gut auf sich aufpassen, man versucht Denken und Fühlen zu trennen. Man will sich zwar alles, wie man es gewohnt ist, in den Kopf packen, aber nicht mehr ins Herz stecken. Man stelzt in sich selber doppelt herum: einmal vergrößert, aber total fremd - und einmal sehr vertraut, aber unkenntlich klein verschwommen. Man spürt, wie das Unkenntliche zunimmt, wie diffus man wird. Dieser Zustand ist gefährlich, man kann noch so aufpassen, bei allem Aufpassen weiß man nicht, wann er kippt. Nur daß er kippt, wenn sich dieses Drecksleben nicht ändert. Es gab nicht nur, was ich meiner Mutter sagte, kein Versteck im Schnee, es gab auch keins bei mir im Kopf: es war mir klar, daß ich weg mußte. Ich war fix und fertig, ich verwechselte seit ein paar Monaten das Weinen und das Lachen. Ich wußte schon noch, an welcher Stelle man nicht weint, an welcher nicht lacht, aber es nützte nichts. Ich wußte es richtig und machte es falsch. Ich war nicht mehr imstande, mich an das, was ich wußte zu halten. Ich lachte und weinte durcheinander über mich hinweg.

In diesem Zustand kam ich in Nürnberg an, im Übergangsheim Langwasser. Es war ein hoher Turmblock gegenüber von Hitlers Parteitagsgelände. In dem Block die kleinen Schlafschachteln, die Gänge ohne Fenster nur mit Neonlicht, die unzählig vielen Büros. Und am ersten Tag Verhör beim Bundesnachrichtendienst. Dann am zweiten Tag wieder und mehrmals mit Pausen, und am dritten, am vierten Tag. Mir war schon klar: Die Securitate, die wohnt nicht mit mir in Nürnberg, hier sitzt nur der Bundesnachrichtendienst. Ich war jetzt wo er war, aber wo, verdammt, wo war ich hier angekommen. Prüfer hießen diese Vernehmer, Prüfstelle A und Prüfstelle B stand auf der Tür. Der Prüfer A prüfte, ob ich nicht doch „einen Auftrag habe“. Das Wort „Spitzel“ fiel nicht, aber es wurde geprüft: „Hatten Sie mit dem dortigen Geheimdienst zu tun?“ „Er mit mir, das ist ein Unterschied“, sagte ich. Es war empörend. Der Prüfer B prüfte dann: „Wollten sie die Regierung stürzen, nun könnten Sie es doch zugeben, das ist doch jetzt Schnee von gestern.“

Dann passierte es. Ich ertrug nicht, wie hier ein Prüfer mein Leben mit einer Redensart abtut. Ich sprang vom Stuhl auf und sagte viel zu laut: Es ist immer derselbe Schnee. Die Redensart mit dem Schnee von gestern mochte ich auch früher nicht, weil sie, was gestern war, nicht mehr kennen will. Ich spürte jetzt deutlich, was es ist, was ich an diesem Ausdruck mit dem Schnee von gestern nicht ertrage: Ich ertrage nicht, wie gemein sich hier eine Metapher Platz macht, wie sie Verachtung zeigt. Wie unsicher muß dieser Ausdruck sein, wenn er so auftrumpft, sich so arrogant macht. Man muß dem Ausdruck doch entnehmen, daß dieser Schnee gestern wohl wichtig war, sonst müßte man über ihn doch nicht reden, sich heute seiner nicht entledigen. Was mir dann durch den Kopf ging, sagte ich dem Prüfer nicht.

Im Rumänischen gibt es zwei Wörter für Schnee. Eines davon, das poetische Wort für Schnee heißt NEA. Und NEA heißt im Rumänischen auch ein Herr, den man zum Siezen zu gut und zum Duzen zu wenig kennt. Auf Deutsch würde man vielleicht ONKEL sagen. Manchmal wenden die Wörter sich an wie sie wollen. Ich mußte mich gegen den Prüfer wehren und gegen die Suggestion des Rumänischen, das mir sagte: Es ist immer derselbe Schnee und immer derselbe Onkel.

Und noch etwas geschah: Während ich - aus der Diktatur angekommen im Nürnberger Übergangsheim - verhört wurde von einem deutschen Geheimdienstler, dachte ich: Nun bin ich ganz frisch gerettet und sitze hier im Westen wie das Kalb auf dem Diwan. Erst durch den Augenhunger des Beamten begriff ich, daß nicht nur das gequälte Kalb mit dem gebrochenen Fuß mißbraucht wurde, sondern genauso - nur noch hinterhältiger - das verwöhnte Kalb auf dem Diwan.

Jeden Winter kam zu uns nach Hause die Weißnäherin. Sie blieb dann zwei Wochen, aß und schlief bei uns. Sie hieß so, weil sie nur weiße Sachen nähte: Hemden und Unterhemden und Unterhosen, und Nachthemden und Brusthalter und Strumpfhalter und Bettzeug. Ich hielt mich viel in der Nähe der Nähmaschine auf, ich schaute wie die Stiche fließen und eine Naht werden. Als sie den letzten Abend bei uns war, sagte ich nach dem Nachtessen: Näh mir was zum Spielen.

Sie sagte: Was soll ich dir nähen.

Ich sagte: Näh mir ein Stück Brot.

Sie sagte: Dann mußt du später alles, was du gespielt hast essen.

Alles, was man gespielt hat essen. So könnte man auch das Schreiben definieren. Wer weiß: Was ich schreib, muß ich essen, was ich nicht schreib - frißt mich. Davon daß ich es esse, verschwindet es nicht. Und davon, daß es mich frißt, verschwinde ich nicht. So ist das, wenn sich Gegenstände selbständig machen und Sprachbilder sich diebisch nehmen, was ihnen nicht gehört. Gerade beim Schreiben, wenn Worte etwas anderes werden, um genau zu sein, stelle ich kopfschüttelnd fest:

Es ist immer derselbe Schnee und immer derselbe Onkel.

© Herta Müller